Minderjährige aus Zuwandererfamilien leben besonders häufig von der Fürsorge - Kinderhilfswerk: Steuer- und Sozialsystem ist familienfeindlich
Berlin - Die Kinderarmut in Deutschland steigt trotz guter Konjunktur und sinkender Arbeitslosigkeit weiter an. Seit Einführung von Hartz IV vor knapp drei Jahren habe sich die Zahl der auf Sozialhilfe angewiesenen Jungen und Mädchen auf mehr als 2,5 Millionen verdoppelt, sagte der Präsident des Kinderhilfswerks, Thomas Krüger, am Donnerstag bei der Präsentation des "Kinderreports Deutschland 2007". Allerdings seien die Arbeitsmarktreformen nicht die Ursache der Kinderarmut, sie hätten die Misere der Familien nur sichtbarer gemacht.
Laut Report gelten mittlerweile 14 Prozent aller Kinder offiziell als arm. 1965 sei nur jedes 75. Kind unter sieben Jahren auf Sozialhilfe angewiesen gewesen. Heute lebe dagegen mehr als jedes sechste Kind von der staatlichen Fürsorge. Die Kinderarmut verdopple sich alle zehn Jahre, heißt es in dem Report.
Besonders prekär sei die Lage in vielen ausländischen Familien. Im größten Bundesland, in Nordrhein-Westfalen, lebe bereits jedes dritte Kind in einer Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaft. In den Städten liege die Quote bei knapp 40 Prozent. Spitzenreiter sei Bielefeld, wo fast jedes zweite Kind mit Migrationshintergrund auf Sozialgeld angewiesen sei. Hohe Armutsquoten wiesen vor allem Zuwandererfamilien aus der Türkei und Ex-Jugoslawien auf. Dabei seien die Probleme in der zweiten Generation sogar noch deutlich größer als in der ersten, heißt es in der Studie. Der Grund ist nach Ansicht der Autoren, dass sich die Armut zunehmend vererbe. Ein großer Teil der Migrantenkinder stecke in einem Teufelskreis aus Armut, schlechten Bildungschancen und schlechten Berufschancen. So verlasse ein Drittel der ausländischen Jugendlichen die Schule ohne Abschluss. Ein wichtiger Grund hierfür seien Defizite in der deutschen Sprache. Verbandspräsident Krüger verlangte eine bessere Förderung ausländischer Kinder. Nötig seien neben einer gezielten Sprachförderung auch Verbesserungen der gesundheitlichen Beratung.
Das Kinderhilfswerk sieht aber auch immer mehr Kinder aus der Mittelschicht von Armut bedroht. So könne ein Durchschnittsverdiener heutzutage keine vierköpfige Familie mehr ernähren, sondern sei auf ergänzende Sozialhilfe angewiesen. Damit werde auch der Facharbeiter "zum Almosenempfänger deklassiert". Nach Ansicht des Kinderhilfswerks wurzelt die Familienmisere vor allem im deutschen Steuer- und Sozialsystem. Den Familien werde ein Übermaß an Abgaben abverlangt. Der Darmstädter Sozialrichter und Mitautor der Studie Jürgen Borchert sagte, die Familienpolitiker betrieben eine systematische Täuschung der Bürger. Stets werde auf die im internationalen Vergleich angeblich hohen Ausgaben für die Familien verwiesen. Tatsächlich gebe Deutschland jedoch nur 1,9 Prozent seiner Wirtschaftsleistung (BIP) für Familien aus, der EU-Durchschnitt liege mit 2,1 Prozent höher. Dabei weise Deutschland weltweit die höchste Quote an Kinderlosen auf und müsste deshalb eigentlich einen besonders großen Familienlastenausgleich aufweisen. Borchert verwies darauf, dass das Bundesverfassungsgericht verlangt habe, die Familien bei den Sozialabgaben zu entlasten. Doch die Politik setze die Verfassungsgerichtsurteile nicht um, rügte der Sozialrichter.
Der Verband forderte ein "Nationales Programm zur Bekämpfung der Kinderarmut". Im Steuerrecht und in den Sozialsystemen müssten die Benachteiligungen der Familien beseitigt werden. Außerdem sollte mehr staatliches Geld in die frühkindliche Bildung fließen. Wichtig sei aber nicht nur der Ausbau. Vor allem die Qualität müsse stark verbessert werden. Die Gruppen seien in den hiesigen Krippen zu groß und die Erzieherinnen nicht genügend qualifiziert.
Die SPD will in der kommenden Woche eine Kommission zum Thema "Kinderarmut" einsetzen. Sie soll geleitet werden von Wolfgang Jüttner, dem SPD-Spitzenkandidaten in Niedersachsen für die Landtagswahl im Januar.