[SIZE="4"]Kostenlos-Konkurrenz für Microsofts Goldesel[/SIZE]
Web-basierte Office-Programme werden seit 1996 immer wieder als Patentlösung präsentiert - mit mäßigem Erfolg. Doch was das indische Projekt Live Documents aus dem Hut zaubert, hat das Zeug, Microsoft ernsthaft unter Druck zu setzen: Das Programm kopiert MS Office.
Wenn von Microsofts monopolartiger Stellung die Rede ist, denkt man unwillkürlich an Windows. Doch der Betriebssystem-Markt ist nicht der einzige, den MS bisher monolithisch beherrscht: Auch Microsofts Office Suite ist so gut wie allgegenwärtig. Konkurrierten Ende der Achtziger noch Programme wie Wordperfect oder WordStar leidlich erfolgreich mit Microsofts Word und der später wachsenden Zahl von Anhängseln, führen die Überlebenden heute ein Nischendasein.
enn natürlich gibt es zahlreiche Konkurrenzprodukte in allen möglichen Ausstattungsformen und Preislagen. Doch selbst, wenn sie - wie etwa OpenOffice - nicht nur kostenlos zu haben sind, sondern auch so gut wie alles bieten, woran man sich bei MS gewöhnt hat, feiern sie nicht mehr als Achtungserfolge. Otto Normalnutzer hat auf seinem Privat-PC Microsofts Office Suite - ob legal erworben oder raubkopiert. Auch wenn Microsoft immer wieder gegen letzteres wettert, dient selbst das der Marktposition - denn woran man daheim gewöhnt ist, damit arbeitet man auch im Büro sehr gern.
Es ist wie mit dem Bauern, der nur frisst, was er kennt: Die Menüführung muss halt stimmen, die Bedienung vertraut wirken. Was irgendwie anders ist, hat wenig Chancen.
Wenn sich diese Erkenntnis umkehren ließe, dann stünden die Chancen von Sabeer Bhatia gar nicht schlecht. Der indische Software-Unternehmer, der den Grundstock seines Vermögens mit der Gründung des prototypischen Webmail-Dienstes Hotmail legte, den er an Microsoft verkaufte, prescht den immer zahlreicheren Propheten der Web-basierten Applikationen hinterher. Auch sein "Live Documents" genannter Dienst will online und kostenfrei die Funktionalitäten eines Programms erschließen, das man normalerweise kaufen müsste - und wie Google und Adobe hat er den Markt der Office-Programme im Visier.
Nicht der erste Versuch
Der Gedanke ist ja auch sexy: Statt ein teures Programm kaufen zu müssen, nutzt man einfach eines, das über einen Web-Browser zur Verfügung gestellt wird. Das Konzept ist - in den Maßstäben des Internet-Zeitalters - uralt: Vom Ende der Festplatten und gekauften Programme träumten Mitte der Neunziger schon die Bill-Gates-Gegner Larry Ellison oder Scott McNealy. Nur für solche Anwendungen war einst die Entwicklung von Java in Auftrag gegeben worden.
Doch obwohl das Konzept "Web-Dienst statt Software" seit 1996 mit schöner Regelmäßigkeit als die kommende Killer-Applikation gepriesen wurde, ergab sich daraus bisher ziemlich wenig. Web-Mail-Dienste sind heute ein Standard, ausgelagerte Organizer-Funktionen zumindest unter den Schlipsträgern der Welt - aber sonst? Außer Spesen wenig gewesen.
Vielleicht hat Bhatias Live Documents das Potenzial, das zu ändern.
Das Programm, derzeit nur im geschlossenen Betatest auf Einladung zugänglich, will das gesamte Leistungsspektrum von Microsofts Office über das Web zugänglich machen. Mehr als das: Es kopiert die MS-Office-Suite sogar ausdrücklich. In den FAQs (häufigst gestellten Fragen) zum Programm erklären die Macher zum Punkt "Usability": "Live Documents bietet Ihnen eine vertraute Arbeitsumgebung - die von Microsoft Office - so dass man nicht neu lernen muss."
Und Live Documents setzt noch einen drauf: Nicht nur im Web, auf einer Flash-Plattform basierend, gibt es das Programm, sondern bald auch zum Download. Dann klinkt es sich in ein vorhandenes Office-Paket ein und erweitert dieses mittels einer Toolbar um zusätzliche Online-Kooperationsmöglichkeiten - und natürlich heißt diese Software, die Live Documents quasi huckepack verbessern will, Microsoft Office.
Ist das Konkurrenz - oder ein Angebot an Microsoft?
Live Documents beruht, daraus macht die Mutterfirma InstaColl aus Bangalore keinen Hehl, auf einem Reversed Engineering des Microsoft-Programms. Vier Jahre hätten 32 indische Programmierer gebraucht, Microsofts Quellcode zu knacken und das Programm dann Flash-basiert für das Web nachzubauen. Microsoft bezahlte drei Jahre lang rund 2000 Programmierer, um den Code für Office zu schreiben.
Das alles ist entweder frech und ernst gemeint, oder aber ein dreister "Microsoft, kauf mich, bevor ich Dich beiße!"-Ruf.
Denn anders als im Falle von Googles kleinen kostenlosen Office-Applikationen, die bisher verhältnismäßig wenig Nutzer fanden und längst nicht alle Funktionen bieten, die gerade Unternehmen von einer Office Suite verlangen, spricht Live Office gezielt auch Microsofts zahlende Stammkundschaft an.
Serienbrieffunktionen? Kein Problem. Interaktion innerhalb eines definierten Netzwerkes? Natürlich. Präsentationen, Kalkulationen, Dokumentationen verknüpfen? Kann Live Documents angeblich alles, behaupten die Macher.
Für Privatnutzer wäre all das kostenlos und mit 100 MB ebenfalls kostenlosem Web-Speicherplatz verbunden. Für Unternehmen wäre der Dienst kostenpflichtig, aber natürlich weit preiswerter als Unternehmenslizenzen von Microsoft - und ganz automatisch immer auf dem letzten Stand.
Microsoft hätte bei diesem trotz seiner Größe unfairen Kampf eine Menge zu verlieren, wenn Live Documents wirklich hält, was die Macher versprechen. Rund ein Drittel des Gesamtumsatzes des IT-Riesen hängt an den Office-Programmen, in diesem Jahr will Microsoft 20 Milliarden Dollar damit umsetzen.
Sabeer Bhatia glaubt, das die Zeit solcher Umsätze mit Office-Software grundsätzlich dem Ende entgegen gehe. Die Zukunft gehöre web-basierten Anwendungen wie seiner, und natürlich würde er Microsoft gern beerben. Die Gates-Company rechnet selbst seit langem mit solch einem technologischen Wandel und bereitet sich auch darauf vor. Dass nun allerdings ein Herausforderer vorprescht, der anders als die bisherigen vollmundig tönt, er könne nicht nur alles, sondern das sogar besser, kann Redmond nicht schmecken.
In wenigen Tagen wird man sehen, was dran ist an den steilen Behauptungen: Die Zugänge zum Betatest werden wohl Anfang nächster Woche geöffnet, und natürlich sehen wir zu, dass SPIEGEL ONLINE dabei ist. Mehr also in wenigen Tagen entweder in Form von Testberichten - oder von Agenturmeldungen, dass da Unternehmen A mit Firma B verhandelt. Nichts ist unmöglich.