Der wütende Robert
Niemand kann den Selbstmord des Torhüters Robert Enke so richtig verstehen. Das liegt an einem falschen Ansatz. Denn alle begreifen das Krankheitsbild Depression nur als tiefe Traurigkeit und sehen den Kranken erstens als schwach und zweitens als Opfer in einer tödlichen Defensive. Nichts könnte falscher sein. In Wirklichkeit geht es bei Depressionen um Wut und Kontrolle.
Laut Medienberichten und seinem Psychotherapeuten Valentin Markser begannen die Depressionen 2003. Folgendes war zuvor vorgefallen: 2002 kam Enke »zum großen FC Barcelona« und schien damit auf dem Höhepunkt seiner Karriere angekommen zu sein.
»Doch ausgerechnet im ersten Pflichtspiel beim 2:3 im Pokal gegen Drittligist Novelda patzt der Deutsche. Der Neue ist der Sündenbock! Kapitän Frank de Boer und weitere Mitspieler geben ihm die Schuld an der Niederlage. Enke verliert seinen Stammplatz. (...) Erstmals erlebt er Ablehnung und öffentliche Kritik.« (Bild.de, 11.11.2009)
Dass so etwas traurig machen kann, ist klar. Sündenbockrolle, Ablehnung und Kritik können aber auch wütend machen – sehr wütend. »Als Enke dann ein Jahr später rausfliegt und nicht mal mehr ins Trainingslager mitreisen darf, beginnen die Depressionen ...«
Aber beginnt da nicht auch eine tödliche Wut? Wo ist die Wut von Robert Enke?
Nach dem Rauswurf bei Barcelona fühlt sich der Torwart als Outcast und flüchtet zu einem anderen Outcast, dem geschassten Trainer Christoph Daum nach Istanbul. Doch da, so Bild, geht die Leidenszeit weiter. »Nach einer schwachen Leistung beim 0:3 im Pokal gegen Lokalrivale Istanbulspor« wird Enke gar von den eigenen Fans mit Flaschen und Feuerzeugen beworfen. Eine schlimmere Demütigung ist eigentlich kaum noch denkbar.
Könnte man da nicht ausrasten? Möchte man da nicht die Kalaschnikow rausholen? Aber wo ist die Wut von Robert Enke?
Überall wird Enke als immer freundlich und ausgeglichen beschrieben – irgendwelche Ausbrüche von Enke werden nicht überliefert: »Robert ist sehr, sehr ausgeglichen«, sagte DFB-Torwart-Trainer Andreas Köpke laut Bild vom 18. November 2007. »Ihn kann nichts mehr erschüttern. Er hat sportlich und auch privat einiges erlebt, dadurch ist er unglaublich nervenstark.«
»Robert Enke war vordergründig ein Gentleman, ein hochsympathischer Zeitgenosse, seine Interviews wirkten klug und nachdenklich«, heißt es in einem Blog. »Er vermittelte den Eindruck, nicht nur intelligent, sondern auch – trotz oder wegen seiner Schicksalsschläge – stark und ausgeglichen zu sein.« – »Er wirkte aus dem TV und aus gelesenen Interviews immer so ruhig und ausgeglichen«, steht an anderer Stelle zu lesen. Und so geht es immer weiter:
– »Robert kam immer so ausgeglichen rüber«
– »Für mich hat er immer einen ausgeglichen ruhigen Eindruck vermittelt.«
– »Er galt als äußerst ausgeglichen – was für eine Fehleinschätzung.«
In der Tat – denn wird das nicht langsam unheimlich? Der schmähliche Rauswurf in Barcelona, die Flaschen in Istanbul – alles vergeben und vergessen?
Oder hatte Enke etwa beschlossen, die Wut über diese Ereignisse professionell »wegzudrücken«?
Dafür ist natürlich eine enorme Kontrolle erforderlich. Ja, könnte es nicht sein, dass Robert Enke in Wirklichkeit ein Kontrollfreak war? Dominanz und Kontrolle waren ja schließlich auch sein tägliches Brot. Ein Torhüter muss alles kontrollieren, was sich in seinem Strafraum abspielt. Er muss den Gegner dominieren und jeden Ball, der in seinen Strafraum eindrang, sofort unter Kontrolle bringen.
Und Enke übte diese Kontrolle selbst in seinem Sterben aus, indem er zwei völlig wehrlose Lokführer dazu zwang, ihn umzubringen. Das soll nicht etwa eine Anklage sein, sondern nur ein Vorschlag für eine bessere Diagnose.
In dieser letzten Situation seines Lebens bündelt sich seine ganze Problematik:
1. war dieser Selbstmord aggressiv (oder man könnte auch sagen: wütend) gegenüber seiner Umwelt, die dem Ereignis wehrlos ausgeliefert war. Zehntausende Menschen wurden mitten ins Herz getroffen.
2. war Enke nicht schwach, sondern unglaublich stark: Der Mut und die Konsequenz, sein Leben zu beenden; der Mut, sich einer gewaltigen, mit 160 km/h daherrasenden Lok zu stellen.
3. behielt Enke voll die Dominanz und Kontrolle. Auf diesem Gleis war er nicht das wehrlose Opfer und die Lok das überlegene Gegenüber. Vielmehr hatte Enke hier das Sagen: »Ich kontrolliere hier die Situation. Ihr macht, was ich geplant habe.«
Mögen sie im Alltag erfolgreich sein oder auch nicht, an diesem Abend waren die Dominanz und Kontrolle des Robert Enke für die Lokführer so unentrinnbar wie der Wille Gottes. Nach dem Sichtkontakt mit einem in der unmittelbaren Nähe auf dem Gleis befindlichen Objekt ist es unmöglich, einen 160 Stundenkilometer schnellen Zug rechtzeitig zu stoppen: Schon »ein mit 140 km/h fahrender Zug legt pro Sekunde 39 Meter zurück. (...) Ein Zug, der mit Tempo 140 unterwegs ist, braucht bis zu einem Kilometer, um zum Stillstand zu kommen.« (SBB)
Vorausgesetzt, man springt nicht zur Seite (auch dafür ist Kontrolle nötig), ist der stehende Selbstmord auf dem Gleis so sicher, wie ein Sprung aus dem 10. Stock. Nur dass man bei einem Sprung in die Tiefe den darunterliegenden Beton nicht kontrolliert oder zu irgendetwas zwingt.
Der Mann war letztlich kein Opfer seiner Depression, sondern seiner Wut und seiner Kontrolle, die es ihm nicht erlaubte, seine Wut irgendwann einmal rauszulassen. Er hatte ausschließlich ausgeglichen und gut zu sein: Er war gut zu seiner kranken Tochter, zu seiner Adoptivtochter, zu seinen Tieren, zu seiner Frau, wahrscheinlich auch zu seinen Kollegen.
Was uns zu der Frage bringt: Ist die »Volkskrankheit Depression« am Ende etwa eine »Volkskrankheit Wut«? Wundern würde es einen nicht. Denn wo ist denn die Wut in Deutschland? Sind wir nicht alle kleine Robert Enkes?
Robert Enke hat seine alte Wut zehntausenden Menschen um die Ohren gehauen und sie damit mitten ins Herz getroffen. Diese Wut muss wirklich grenzenlos gewesen sein. Aber vor allem dominierte Enke auch seinen alten Club Barcelona und zwang den spanischen Meister vor dem Pokalspiel gegen Cultural Leonesa zu einer Schweigeminute. Und nicht nur das: Barcelona widmete ihm, dem früheren »Versager« Enke, sogar seinen hohen 5:0-Sieg in diesem Spiel. Ein später Triumph für Robert Enke – und ein teurer außerdem. Aber ein Triumph war es letztlich trotzdem.